Menschen und Milch
Menschen und Milch
Donnerstag, 29. April 2010
„Stell dir das bloß mal vor!“, alarmierte mich unsere gute Bekannte mit schreckgeweiteten Augen. „Der Mensch! Ist das einzige Säugetier! Das die Milch! Anderer Säugetiere! Trinkt!“ Offensichtlich wertete sie diese Tatsache weniger als einen entscheidenden Selektionsvorteil im Stahlbad der Evolution, sondern als eine bestürzende, krankhafte Entgleisung. An der Faktengrundlage, auf die ihr Argument baute, war natürlich nichts auszusetzen. Als Beleg dafür, dass der Genuss von Milch und Milchprodukten ungesund sein müsse, schien es mir aber auch nicht zu taugen.
Immerhin, gab ich zu bedenken, ist der Mensch auch das einzige Säugetier, das seine Nahrung hitzegegart verzehrt, Zucker auf seine Cornflakes streut, vergorene Flüssigkeiten einnimmt, sich die Fußnägel kürzt und lackiert sowie Fahrrad fährt. Das einzige Säugetier, das seinen Bau mit Papier auskleidet und dieses bunt anstreicht. Das einzige Säugetier, das seine Beinkleider mit Gürteln fixiert, das Deodorants und Kämme, Fliegenklatschen und Fahrstühle benutzt.
Welches andere Säugetier, frage ich jetzt und klopfe drängend mit dem Zeigefinger auf den Tisch, schleppt vier Säcke mit je 70 Litern Erde in den vierten Stock, um sie dort in steinschwere Keramik-Töpfe zu entleeren? Welches andere Säugetier geht dann hin, streut Samen in diese Erde und sorgt dafür, dass zehn Meter über dem Erdboden plötzlich Blütenpflanzen wachsen, die dann auch noch täglich bewässert und eifersüchtig vor Fraßfeinden beschützt werden müssen, ohne dabei auch nur ein Jota zur Nahrungsversorgung beizutragen? Es gibt Menschen, die pflanzen sogar einen Baum in einen Kübel und stellen diesen auf die Terrasse. Und was genau sagt uns das alles über die Ordnung der Primaten, der wir angehören? Dass wir rettungslos ballaballa sind? Oder dass wir zu lange zu viel Milch getrunken haben?
Was ich sagen wollte - der Acker im Dachgeschoss ist bestellt. Einem plötzlichen Anflug von Tollkühnheit folgend stehen nun auch die Tomaten schon unter freiem Himmel. Wie jedes Jahr werden Salbei und Fingerkraut bereits von heimtückischen Spatzen attackiert. Den Lorbeer schließlich habe ich schwungvoll zurückfrisiert. Das Laub der herausgeschnittenen Äste ergab einen Zehnjahresvorrat an Würzblättern für Fonds und Suppen. Aus den Zweigen, die dickeren längs halbiert oder geviertelt, lassen sich Spieße für Grillfleisch schnitzen - man muss die Abschnitte vom Lamm, auf das Holz gesteckt, nur eine Nacht marinieren, dann bekommen sie das kräftige Aroma des Strauches. Weil die freundliche Nachbarin am Tag zuvor ein paar Stängel Zitronengras abgegeben hatte, wurden diese im gleichen Anlauf mit Putenbrustwürfeln und Ananas bestückt und in Limettensaft und Ingwer eingelegt. Was sich jedoch als Fehlschlag erwies - Ananassaft und Marinade lösten die Textur (endlich Gelegenheit, das von Herrn Dollase entliehene Wort mal lässig einzuflechten) des Fleischs komplett auf. Ergebnis: Die Geflügelspieße schmeckten wie allzu trockene Leber. Keine Offenbarung. Notiz an mich: Was nicht zusammengehört, bleibe getrennt. Vor allem auf dem Grill.
Ich bin ein bekennender Spießer.