Redaktionen äußern mitunter Wünsche, die einen Autoren in stilles Sinnen versetzen. Dazu gehört der Plan, in einer für Dezember vorgesehenen Sendung über typische Thüringer Heilkräuter zu berichten. Die wirkliche Welt, in der es Jahreszeiten mit Wärme und Kälte, Hitze und Frost, Dürre und Blüte gibt, genügt eben nicht immer den Bedürfnissen moderner Medien. Nun ließe sich einwenden, dass es doch auch wohlbestückte Archive gebe, in denen sich die benötigten
Aufnahmen sicher schnell auffinden ließen. Dies ist wahr, und auch wieder nicht. Kein Autor, der was auf sich hält, schneidet gern Stücke aus Archivbildern zusammen. Schließlich ist jeder Autor, der was auf sich hält, der festen Meinung, dass er es ohnehin besser bringt als jener, der für den Archivbeitrag verantwortlich war. Und das ist nur das erste Problem.
Zweites Problem - die Qualität. Viele Archivbänder stammen aus Zeiten, in denen man noch im Format 4:3 drehte. Inzwischen haben wir 16:9. Ältere Aufnahmen müssen konvertiert werden, quasi aufgeblasen, und das macht das Bild matschig und unscharf. Drittes Problem - Archivsequenzen sind selten Rohmaterial, sie stammen aus Sendebeiträgen. Und die gesuchte Naheinstellung von der Römischen Kamille ist dann oft nur anderthalb Sekunden lang - oder sie wurde selbst wieder aus einem anderen Archivbeitrag entlehnt, vorzugsweise aus einer Ratgebersendung von 1994 (siehe zweites Problem). Viertes Problem - Archivbilder allein erzählen noch keine Geschichte. Und aus all diesen Gründen ist ein Neudreh immer besser.
Glücklicherweise fanden wir - unter tatkräftiger Mithilfe der Redaktionspraktikantin, damit ich mir jetzt keine falschen Lorbeeren anstecke - die Familie Worm aus Oberweißbach.
Hier geht es zu ihrer Website. Dank Elsbeth und Andreas Worm konnten wir auch Ende November noch eine Kräuterwanderung begleiten. Man muss nur wissen, wonach man suchen muss. Oberhalb der Rasenkante ist alles Verwertbare inzwischen natürlich verdorrt, sieht man mal von einsamen Beifuß-Stängeln und dem schier immerwährenden Gänseblümchen ab.
Doch der Rohstoff für etliche der berühmten Thüringer
Olitäten steckt unter der Erde - die Wurzelstöcke von
Blutwurz,
Bärwurz oder
Engelwurz etwa. Und diese Rhizome lassen sich auch im November noch ernten - so lange der Boden nicht gefroren ist, und so lange man weiß, wo zu graben ist.
Elsbeth Worm holt die Wurzeln mit einer Geweihstange aus der Erde. Keine Marotte, sondern eine überaus praktische Lösung. Die Stange wiegt viel weniger als ein Spaten, mit der Gabel an der Spitze dringt man leichter in den Boden, dank der gebogenen Form kann man unter den Wurzelstock fassen und ihn im Ganzen heraushebeln. Außerdem läuft man weniger Gefahr, die Wurzel durch scharfe Metallkanten zu verletzen. Mit Metall sollen Blutwurz oder Bärwurz ohnehin nicht in Berührung kommen - die Kräuterfrau sorgt sich, dass dadurch Wirkstoffe verändert werden könnten.
An Blutwurz - auch Tormentill
genannt - und Bärwurz erklärt uns Frau Worm, wie man aus augenfälligen Eigenschaften der Pflanze auf ihre vermeintliche Wirkung schloss. (Hier mehr zur
Signaturenlehre.) Schneidet man die Wurzel von
Potentilla erecta an, strömt ein blutroter Saft aus. Verantwortlich ist der Farbstoff Tormentol. Früher schrieb man der Pflanze daher Blut stillende Wirkung zu. Und mehr noch - selbst gegen die Pest sollte sie helfen. Während einer Epidemie in Baden um 1348 soll ein Vogel die folgenden hilfreichen Worte gezwitschert haben:
„Aesst Durmedill (Tormentill)
und Bibernell, sterbt nüt so schnell.“
Die Bärwurz wiederum, deren feingefiedertes Laub man als frischen Vitaminspender isst, galt als „Hebammenkraut des späten Mittelalters“. Das Rhizom, das mit zahlreichen fadendünnen Wurzeln besetzt ist wie mit einem Pelz, habe Bezüge zum Bären, einem Fruchtbarkeitssymbol, und zur Gebärmutter herausgefordert. Extrakte aus der Bärwurz galten als Aphrodisiakum - „da glaubt jeder Wäldler hier noch dran“, versichert Elsbeth Worm.
Außerdem wurden sie zur Behandlung der „verruckten Mutter“ eingesetzt, was keineswegs eine Geisteskrankheit bezeichnete, sondern eine Gebärmuttersenkung.
Nach Drehschluss durften wir noch probieren. Blutwurz-Schnaps mit 52 Volumenprozenten und reichlich Zucker. Bärwurz-Schnaps, der ein wenig danach schmeckt, als würde man in eine Sellerieknolle beißen und gleich danach einen Wodka hinunterstürzen. Regionale Spezialitäten, die aller Ehren wert sind, die ich aber freiwillig nur bei sehr ernsten Verdauungsbeschwerden schlucken würde. Wenigstens schmecken sie so, als ob sie dann wirklich helfen.