Die Klossfrage
Die Klossfrage
Donnerstag, 25. Dezember 2008
Es gibt angeblich mehrere tausend Rezepte für die Zubereitung von Thüringer Klößen. Das Kloßmuseum in Heichelheim verbreitet die abenteuerliche Zahl von 18972 (hier). Hier sind gesunde Zweifel angebracht. Bedenkt man, dass diese klassische Bratenbeilage im Grunde ja nur aus Kartoffeln bestehen soll, wenn auch in unterschiedlichen Aggregatzuständen, dann sind die erlaubten Variationsmöglichkeiten nicht allzu groß. Und in der Tat weichen die im Netz aufzufindenden Rezepte auch kaum voneinander ab: Hier, hier, hier, hier und hier finden sich ein paar Beispiele. Streit gibt es höchstens um das Mischungsverhältnis von rohen und gekochten Kartoffeln, den Sinn des Schwefelns und den zweckmäßigen Einsatz verfügbarer Haushaltsgeräte (Entsafter, Kloßpresse, Waschmaschine) bei der Zubereitung.
Allerdings - oben schon erwähntes Kloßmuseum überrascht auf seiner Internet-Seite auch mit folgender Behauptung: „Bei den Unterschieden handelt es sich um schwer fixierbare Unwägbarkeiten: das beginnt beim Prozentsatz der rohen beziehungsweise der gekochten Kartoffeln und endet noch längst nicht bei den verschiedenen Wärt- und Färbezusätzen, als da sind Schwefeldockte, Heringsgräten, Muskatnuß, Safran, geröstete Brotwürfel, ungeröstete Brotwürfel, Spalttabletten, Lindenblütenhonig, gestoßener Kies, Gänseblümchenöl, Beifuß, Beiarm, Polyisobutylene (nur in Industriestädten gebräuchlich), Puderzucker, Hirschhornsalz und so weiter und so fort.“ Nur wird dieses Zitat Lothar Kusche zugeschrieben, der in Berlin geboren und außerdem als Satiriker bekannt ist. Von ihm stammt auch die bereits erwähnte Zahl der Rezepte. Wir müssen das also alles nicht so ernst nehmen - obwohl die befreundete Frau Fish da möglicherweise strengere Maßstäbe anlegt. Gebürtige Thüringer und ihre Regionalkultur - hier ist nicht zu spaßen.
Ein geschätzter Fernsehautorenkollege von mir hat, höre ich, die eigenhändige Zubereitung Thüringer Klöße frustriert aufgegeben. Das ist so bedauerlich wie der Fall jener Fernsehredakteurskollegin, die beklagt, dass ihr kein Hefeteig gelinge*. Ich unterstelle mal kühn, dass das Scheitern hier wie dort die gleichen Wurzeln hat. Bei der Kloßmasse wie beim Hefeteig gibt es eine zentrale Komponente - die Temperatur. Wenn der Hefeteig zu kühl geführt wird, kommt die Gärung nicht in Schwung. Und wenn die gekochten Kartoffeln, die den geriebenen - dem Rieb - zugesetzt werden, nicht heiß genug sind, kann die Stärke nicht binden. Die Klöße fallen auseinander. Wer konsistente Klöße will, muss sich mit dem Risiko des Verbrühens beschäftigen. Beim Knetgang gibt es dafür gerätetechnische Lösungen. Der echte Thüringer greift zu einem Zwörbl, einem großen, handgeschnitzten Quirl aus Tannenholz. Am besten aus dem Weihnachtsbaum vom Vorjahr. Haben wir hier nicht, also wird mannhaft mit bloßen Fingern gemischt. Oder, wenn keiner hinschaut, mit den Knethaken des Rührgeräts. Sobald die Klöße geformt werden, bleibt aber keine Wahl - dann muss man die Sache in die Hand nehmen.
Bei uns gibt es zu den Klößen übrigens eine Rehkeule. Von einem unglückseligen Wildtier, das die Jäger in den Weiten Mecklenburg-Vorpommerns erwischt haben. Ich habe mir die Keule vom Händler entbeinen lassen, leider aber nicht vereinbart, dass mir die Knochen übergeben werden sollten. So gibt es für die Sauce nur die zweitbeste Option - Fond aus dem Glas.
Dafür kann ich beim Nachtisch aus dem Vollen schöpfen. Es gibt panna cotta mit in Grappa eingelegten Heidelbeeren. Genau wie bei Da Franco in Leipzig. Im Juli hatte ich die Beeren in der Ruppiner Heide selbst gesammelt. Nun schwebten sie ein halbes Jahr im Alkohol, genau für diesen Abend. Vorfreude, schönste Freude.
*Das gibt meiner Theorie Nahrung, dass sich die Menschheit nach vorhandenen oder nicht vorhandenen Fähigkeiten in jeweils zwei Gruppen einteilen lässt. Es gibt Menschen, die ohne jegliche Probleme IKEA-Möbel aufbauen können. Und es gibt andere Menschen, die dazu nicht in der Lage sind. Legt man nun das Kriterium „Hefeteig“ zugrunde, ergibt sich folgendes Bild. Da sind jene, die jeden Hefeteig zum Aufgehen bringen und nicht verstehen, was dabei schief gehen könnte. Und da sind die anderen, denen der Teig regelmäßig zusammensackt.
Die Kartoffeln, aus denen gestern Abend die Klöße entstanden. Von den Klößen selbst gibt es leider kein Foto, weil es zum einen bereits zu dunkel war, zum anderen sich keiner der Tischgenossen bereit fand, ein Exemplar für die Aufnahme herauszurücken. Der Verdacht, es könnte eher daran gelegen haben, dass die Klöße schlicht nicht vorzeigbar waren, muss entschieden zurückgewiesen werden.