Das Sommerprojekt heißt unverändert: Umrundung des Tiroler
Achensees. Eine Art Frage der Ehre, nachdem das halbe Frühjahr dafür drauf ging, die Beine wieder an Laufstrecken von wesentlich mehr als fünfzig Meter zu gewöhnen. Anderthalb Wochen
bleiben noch, um sich mit dem Gedanken an einen gepflegten Halbmarathon endgültig anzufreunden. Wie sich zwanzig Kilometer Dauerlauf (es werden, wie ich inzwischen herausgefunden habe, tatsächlich knapp 23) anfühlen, weiß ich inzwischen. Wie es den Knochen am Tag danach geht, auch.
Der Urlaubsort ist also Trainingslager.
Höhentrainingslager, beschließe ich den Freunden gegenüber zu behaupten. Wirkliches
Höhentraining beginnt zwar erst ab 2000 Metern. Unsere Alm liegt, genau genommen, auf 1360 Metern. Aber wer will da schon richten?
Ich jedenfalls bin beim ersten Laufausflug verblüfft, dass mir etwas geschieht, was ich aus dem Pankower Flachland nicht kenne - Luftnot. Das muss die Höhe sein, erkläre ich mir mein Japsen.
Möglicherweise hat die pfeifende Lunge aber auch damit zu tun, dass ich das Streckenprofil ein wenig unterschätzt habe. Die Sohle das Karwendeltals, durch das mein Parcours führt, schien einigermaßen eben zu verlaufen. So kann man sich täuschen. Zwischen dem Start auf der Gramaialm und dem Wendepunkt an der knapp vier Kilometern entfernten Falzturnalm liegt ein Unterschied von 180 Höhenmetern. Auf der ersten, abwärts geneigten Streckenhälfte herrscht noch Frohlocken, wie leicht sich das alles anlässt. Auf dem Rückweg ändert sich das gründlich. Da kommt einfach nicht mehr genügend Sauerstoff an, so sehr ich auch pumpe. Die Lungen sind bei jedem Zug zum Bersten voll, doch die Luft will einfach nicht reichen.
Die Strecke ist also wirklich etwas anderes als die Routen durch Schlosspark oder Auenwald, wo es - bis auf den Pankower
„Katzenbuckel“ - keine Erhebung gibt, die einen Maulwurfshügel übertreffen könnte. Außerdem sorgt auch der Untergrund dafür, dass kein rechter
Rhythmus entstehen will. Ein ständiges Auf und Ab über grobes Geröll, matschige Weiden und wurzeldurchwirkte Waldwege.
Unten an der Falzturnalm gibt es zu allem Überfluss Zuschauer, die mein Eintreffen mit wohligem Schauer betrachten. Sie sitzen auf der Terrasse des Restaurants beim Weißbier, sehen mich an der Kuhtränke einen Schluck Wasser nachtanken und wieder bergauf hetzen. Jetzt bloß nicht erkennen lassen, dass mich das anstrengt. Mund zu und Knie hoch.
Weiter oben am Hang stellt sich aber ein weiteres Problem in den Weg. Es hat sanfte Augen, vier Beine und wiegt im Durchschnitt 600 Kilogramm. Ich muss gestehen, dass mein Verhältnis zu Kühen weitgehend ungeklärt ist. Für mich als Städter sind diese Viecher nicht berechenbar. Man kann sie essen und ihre Milch trinken, aber dafür muss man sie ja eigentlich nicht persönlich kennen. In den Alpen kommt man um die Begegnung jedoch nicht herum.

Da steht die Großvieheinheit dann auf der Weide, über die die Strecke führt. Was tun? Greift die Kuh gleich an? Kann man sie gefahrlos umkurven oder nimmt sie das als Provokation? Kann man sie möglicherweise höflich dazu bewegen, den Weg frei zu machen? Natürlich weiß ich, dass Kühe als friedlich gelten. Aber so ein Tier vermag einem ja schon durch eine unvorsichtige Körperdrehung weh zu tun, einfach dank seiner schieren Masse. Ich senke den Blick und arbeite mich durch die Herde. Glücklicherweise scheinen die Kühe von einer zuvorkommenden Rasse zu sein. Sie rücken bereitwillig zur Seite. Nett so. Aber als Schmorbraten seid ihr mir trotzdem lieber. Beim Blick auf meine Schuhe weiß ich dann, was das Alpen-Trainingslager neben Höhenluft und Streckenneigung so besonders macht - der Kuhdung an den Sohlen.